Quellenstein



Cordovan: In Gedanken

Ich sah mich auf einmal als Bub im zarten Alter von 13 Jahren durch den Wald eilen. In jeder Hand ein hölzernes Schwert, reich verziert, eines von meinem Vater eines von meinem Großvater. Der Bub sprang, zerfetzte Zweige und Blumen und der Wind zerzauste sein damals lockiges, strohblondes Haar. Plötzlich stand ein Mann vor ihm, sein Gesicht im Schatten verborgen. Kein Zweig bewegte sich, keine Vögel sangen, er stand einfach da! Ein blutroter Schlapphut zierte sein Haupt, der Mantel schwarz wie dunkelste Nacht, in der rechten Hand ein Blau schimmernder Stab, in der Linken ein dickes Buch. Auf den Bub wirkte der Einband des Buches wie bleiche Haut. Dem Bub stockte der Atem... vor solchen Menschen hatte man ihn gewarnt und dennoch fühlte er sich (unerklärlich) zu ihm hingezogen. Er wollte sich einfach umdrehen und weglaufen, aber er zögerte, ließ aus der rechten Hand das Schwert seines Großvaters fallen und ging langsam auf den Mann zu. Als er nur noch wenige Schritte von dem scheinbar zu Stein erstarrten Mann entfernt war, lies dieser mit unheimlichem Geschick den Stab in seine linke Armbeuge schnellen und zückte das Buch. Dieses Buch, ... der Mann verbreitete einen verwesenden Gestank – der Bub hatte einige Wochen zuvor im Wald einen verwesenden Wolf gefunden, und dies war ähnlicher Gestank. Der Mann schlug das Buch auf. Auf der einen Seite war eine liegende Frau abgebildet, um deren Lippen aber ein absurdes Lächeln spielte, auf der anderen Seite ein gelblich-blass erscheinender Tempel, umrankt von Dornen. „Sieh es dir an, Junge! Sieh es dir genau an! Präge es dir ein, für den Rest deines Lebens, denn eben dieses wird davon abhängen, je nach deiner Auslegung, denn das Schicksal hat Dich auserwählt. Doch gib Acht! Auf welcher Seite du am Ende fallen wirst ist noch nicht in den Fluss der Sterne gemeißelt und niemand mag es vorauszusehen!“ Die Stimme klang als würde Gott persönlich zu mir sprechen – welcher auch immer. In meiner Erinnerung war es, als dröhnte mein Kopf von der Macht die in dieser Stimme schwang und schwappte bis in die Realität über. Die Erinnerung traf mich wie ein Tritt in die Eingeweide! Warum war diese Erinnerung bis jetzt verschlossen geblieben... es war eindeutig, dass meine Träume damit zusammen hingen... oder vielleicht doch nicht? Hat diese Erinnerung mich erst zu den Träumen geführt und haben sie nichts zu bedeuten? Eines war klar: Die Erinnerung war so real, als wäre ich wieder ein kleiner Junge gewesen, mitten im Wald. Ich musste Travin davon berichten. Mit einem Schlag wurde mir meine Umgebung wieder bewusst und ich erkannte, dass die Sonne schon den Zenit überschritten hatte. Ich war mindestens drei Stunden unterwegs, ohne zu wissen wohin. Der lichte Laubwald hatte sich in einen düsteren, auch bei Tage fast dunklen, Nadelwald verwandelt. Die wenigen Sonnenstrahlen, die den Boden erreichten, erzeugten schauerliche Schattenspiele auf ihm und den Rinden der Bäume. Wie damals, als ich in dem Mann begegnete, dachte ich und suchte Anhaltspunkte, um den Weg zum Turm zurück finden, doch vergebens. Ich hatte mich im Wald verlaufen, wie damals.


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© Uwe Engling 2020
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